22. April bis 7. Juni 2009
Das Stilmittel, dessen sich Marina Naprushkina vorrangig bedient, ist die Ironie. Die allgemeinste Definition der Ironie lautet: das Gegenteil von dem zu sagen, was es bedeuten soll.
Der Ahnherr der Ironie, der griechische Denker Sokrates, führte die ironische Rede nicht zufällig in einer Zeit ein, als die Sicherheit und Autonomie der griechischen Stadtstaaten durch politische Expansion und den Einfluss anderer Kulturen bedroht schien. Sokrates’ Ironie war auch eine politische Strategie der Doppelbödigkeit. Platon lässt Sokrates in Dialogen auftreten, in denen er seine Gesprächspartner nach ihren Definitionen von Freundschaft oder Gerechtigkeit fragt und sie dann in zunehmende Widersprüche verwickelt. Das vermeintlich sichere, tradierte Wissen entpuppt sich als unhinterfragtes Weitertragen hohler Phrasen.Marina Naprushkina geht wie ein künstlerischer Sokrates vor, indem sie Elemente der offiziellen weißrussischen Propaganda in neue ästhetische Kontexte stellt. Damit lässt sie deren kulturelle und geographische Begrenztheit unmittelbar zutage treten und darüber hinaus das grundsätzliche Problem politischer Propaganda im Zeitalter der Globalisierung. Ihr Bemühen, positive und preisende Botschaften einsinnig zu vermitteln, erscheint, von Außen betrachtet, als Unfähigkeit oder Unwille, das ironische Potential der eingesetzten Stilmittel zu erkennen.Im fortgeschrittenen Kapitalismus wirkt auch eine Werbung, die nichts anderes tut als die vermeintlichen Vorzüge eines Produkts oder einer Dienstleistung ungebrochen anzupreisen, zunehmend lächerlich. Und so erscheint die weißrussische Propaganda, bearbeitet durch Marina Naprushkinas „Büro für Antipropaganda“, zugleich als altmodische Werbestrategie und als überholte Kunst.
Aber es bleibt nicht nur bei der ironischen Kritik: Die Künstlerin zeigt auch auf, wie die Stilmittel der Propaganda im heutigen globalen Kunstgeschehen überleben können. Sie verleibt sie den heute „hoffähigen“ künstlerischen Strategien, die Marina Naprushkina von Malerei, Fotografie und Video bis zur Animation und Installation umfassend einsetzt, einfach souverän ein.(Ludwig Seyfarth)Zur Ausstellung gibt das „Büro für Antipropaganda“ die Edition „Miss Atom 2009“ heraus.
Sie enthält Abbildungen der Teilnehmerinnen des internationalen Schönheitswettbewerbes „Miss Atom 2009“. Der Wettbewerb richtet sich an Arbeiterinnen an Kernkraftwerks gesellschaften und Forschungsinstituten sowie an Studentinnen und Absolventinnen der mit der Atomenergie verbundenen Fachbereiche an den Universitäten Russlands und der Republiken der ehemaligen Sowjetunion. Das Alter der Bewerberinnen muss zwischen 18 und 35 Jahren liegen.
Die Verleihungszeremonie ist ein zentralres Ereignis im sozialen Leben der Kernkraftwerksgesellschaften Russlands. Sie findet jährlich am Vorabend des Frauentages (8.März) in Moskau statt. Der erste Preis ist betitelt mit „Tropisches Paradies“ und besteht in einer einwöchigen Reise nach Kuba. Der Förderer der Veranstaltung ist Atomenergoprom OJSC.
Edition 8+2
Marina Naprushkina
„Büro für Antipropaganda“
2009
Marina Naprushkina: Propaganda als Anti-Propaganda
Im Zentrum des Werkes der 1981 im weißrussischen Minsk geborenen Marina Naprushkina steht die Auseinandersetzung mit dem von Alexander Lukashenkos autoritär regierten Weißrussland. Lukashenkos Herrschaft ist allumfassend: Die Opposition ist unterdrückt und marginalisiert, die Medien sind gleichgeschaltet.
Ein wesentliches Herrschaftsmoment Lukashenkos ist die Gestaltung, Produktion und Kontrolle der weißrussischen Bilderwelt(en); die visuelle Omnipräsenz Lukashenkos, seine sorgfältige propagandistische Inszenierung als eines tatkräftig- weisen Staatsmannes und gütig- sorgenden Landesvaters steht – bis hinein in die Details der ästhetischen Ausdrucksformen – in der guten (nicht nur) sowjetischen Tradition des Personenkults.Die Propaganda Lukashenkos ist der Ansatzpunkt für Marina Naprushkinas Kunst: Sie analysiert Lukashenkos propagandistisches Waffenarsenal und bringt dieses gegen ihn in Stellung; eine reiche Fundgrube ist das Propaganda-Material, das staatliche Institutionen (etwa die gut gepflegte Homepage des Präsidenten) zur Verfügung stellen; die so gewonnenen Bilder und Symbole werden entweder leicht verändert oder in einen anderen Kontext eingefügt, um die ihnen mitgegebene Botschaft auf den Kopf (oder auch auf die Füße) zu stellen.
Indem Marina Naprushkina Propaganda zu Kunst transformiert, tritt gleichzeitig das propagandistische Element von Kunst ins Bewusstsein: Auch Kunst versucht, die Wahrnehmung und das Bewusstsein des Betrachters zu beherrschen, bestimmte Perspektiven nahezulegen oder auszuschließen. Insofern ist Naprushkinas Kunst Propaganda als Anti-Propaganda, oder wie der serbische Künstler Uros Djuric es formulierte: „It is fake socialist realism about fake socialism.“Konsequenterweise betreibt Marina Naprushkina ein „Büro für Anti-Propaganda“: Dabei nutzt sie ganz verschiedene Kommunikationsmedien, um möglichst unberechenbar zu bleiben – Video, Animation, Installationen, Fotografie, Malerei etc. Die Guerillataktik der gezielten medialen Nadelstiche zielt darauf ab, den propagandistischen „Gegner“ aus der Deckung zu locken, angreifbar zu machen und dessen Kommunikationsstrategie subversiv zu unterminieren.
(Frank Graf)